von
Dirk Kurhofer
Die tägliche Arbeit bestätigt es: Nicht alle Kinder sind gleich, nicht alle Kinder lernen gleich und nicht jedes Kind lernt zum selben Zeitpunkt das Gleiche wie ein anderes Kind. In jeder Unterrichtsvorbereitung, in jeder Unterrichtsstunde drängt sich die Frage nach einer sinnvollen Differenzierung geradezu auf. Für jede Grundschullehrerin, für jeden Grundschullehrer gehört es zum pädagogischen Handwerkszeug: Das Wissen um die Differenzierung.
Da Kinder mit einem sehr unterschiedlichen Vorwissen in die Schulen kommen - hier muss nicht einmal auf die vorliegenden Untersuchungen verwiesen werden, das wird jede Kollegin, jeder Kollege aus der eigenen Unterrichtspraxis bestätigen -, kann die Konsequenz für einen effektiven Mathematikunterricht in der Grundschule im Sinne der Kinder nur heißen: Differenzierung von Anfang an.
Nur, jetzt wird es schwierig: Da gibt es die äußere, die innere und neuerdings spricht jeder von der natürlichen Differenzierung. Zur äußeren und inneren Differenzierung fällt uns sehr schnell etwas ein: Wir differenzieren in unserem Unterricht nach der Quantität und selbstverständlich nach der Qualität (dem Schwierigkeitsgrad) der Aufgaben. Wir differenzieren nach Themen und nach dem stofflichen Umfang dieser Themen, wir reden von Fundamentum und Additum. Wir bieten den Kindern die verschiedenen Repräsentationsebenen bei der Erarbeitung eines neuen Themenbereiches an. So können sie auf der enaktiven, auf der ikonischen und dann schließlich auf der symbolischen Ebene arbeiten.
Wir geben den Schülerinnen und Schülern
hoffentlich die Gelegenheit unterschiedliche Lernhilfen zu nutzen. Wir ermutigen
sie, in den verschiedensten Sozialformen tätig zu werden: Einzelarbeit,
Partnerarbeit und Gruppenarbeit, wobei die echte Gruppenarbeit sicherlich einen
sehr hohen, aber nicht illusorischen Anspruch an den Grundschulunterricht
deutlich macht. (Leider ist die so genannte Gruppenarbeit oft nur eine
Einzelarbeit in Gruppen ...)
Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die nach Art des methodischen Zugangs
differenzieren und die eventuell auch die unterschiedlichen Lerntypen beachten.
Einige berücksichtigen sogar nicht nur die akustischen, sondern ebenfalls die
visuellen und haptischen Eingangskanäle, die für Kinder jeweils eine
unterschiedlich große Rolle spielen.
All das sind Differenzierungsmöglichkeiten wie sie täglich von
verantwortungsbewussten Lehrerinnen und Lehrern im ganz normalen
Grundschulunterricht genutzt werden. All das sind Differenzierung, die nach wie
vor ihre Berechtigung haben und die grundsätzlich richtig sind!
Aber was verstehen wir nun unter natürlicher
Differenzierung?
Alle oben genannten Differenzierungsbeispiele gehen in der Regel von der
Lehrerin, dem Lehrer aus. Wir, die Lehrerin, der Lehrer bestimmen und legen
fest, welches Kind wann, was und wie lernen soll, kann und darf!
Aber warum lassen wir die Kinder nicht selbst entscheiden? Ich meine damit nicht
die Entscheidung, ob sie das "federleichte" oder das
"steinschwere" Arbeitsblatt wählen sollen. Ich meine damit die
Entscheidung, wie sie an eine Aufgabe herangehen können und vor allem Dingen
dürfen.
Warum soll ich einen von der Lehrerin
vorgegebenen Weg gehen, wenn ich schon viel weiter bin? Ich erinnere mich in
diesem Zusammenhang an die kleine Britta. Es ging um den Zehnerübergang im 1.
Schuljahr. Die Kinder hatten ein Arbeitsblatt bekommen, mit dem der
Zehnerübergang geübt werden sollte. Zunächst sollte bis zum vollen Zehner
ergänzt und dann der Rest addiert werden. Britta saß fast schon verzweifelt
vor ihrem Zettel und sagte: "Das verstehe ich nicht, das kann ich
nicht!" Auf Nachfrage erklärte sie dann: "Dass 7 und 5 zwölf sind
und dass 8 und 6 vierzehn sind, das weiß ich doch, aber warum soll ich dann so
komisch rechnen?"
In dieser Situation wäre die natürliche Differenzierung sicherlich ein Weg
gewesen, der allen Kindern und damit auch Britta gerecht geworden wäre: Die
Aufgabe "Zehnerüberschreitende Rechnungen im Zwanzigerraum" bleibt
für alle gleich - den Weg zum Ergebnis und das eventuell notwendige
Anschauungsmaterial wählen die Kinder selbstständig und eigenverantwortlich
aus.
Wenn Kinder probieren und experimentieren,
wenn sie Fehler machen dürfen, wenn sie Umwege gehen und sich mit ihren
Mitschülern über verschiedene Lösungswege verständigen können, wenn sie
erfahren, dass der gewählte Weg nicht oder ein anderer Weg eher zum Ziel führt
und auch lernen, das zu akzeptieren, dann können sie wirklich lernen. Kinder
können dann von anderen Kindern lernen, sie können mit anderen Kindern lernen
und sie lernen ganz individuell.
Die natürliche Differenzierung geht von den augenblicklichen Möglichkeiten und
Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler aus. Gerade für Kinder mit
Lernschwierigkeiten ist dies sehr wichtig: Dadurch, dass sie die Freiheit haben,
über die benutzten Hilfsmittel, die Rechenwege und die Form der Lösung selbst
zu entscheiden, können sie ihre eigenen Lernvoraussetzungen optimal einbringen
und schließlich durch das Gespräch mit den anderen Kindern diese
Lernvoraussetzungen nach und nach verbessern.
Bei einer solchen Vorgehensweise hat selbstverständlich auch die Lehrerin bzw.
der Lehrer die Möglichkeit einen eigenen Weg ins Gespräch zu bringen, - das
ist dann aber nicht der Königsweg, sondern ein Rechenweg unter vielen, dessen
Effizienz u.U. von den Kindern erkannt wird und den sie dann übernehmen. Dabei
haben die Kinder die Vorteile selbst erkannt und rechnen nicht nur so,
"weil die oder der da vorne das so will!"
In gemeinsamen Mathekonferenzen werden dann die Rechenwege der Kinder und evtl.
der Weg der Lehrerin / des Lehrers thematisiert. Interessante und überraschende
Erkenntnisse für alle Beteiligten, Lehrerinnen, Lehrer, Schülerinnen und
Schüler, sind garantiert!
Möchten Sie einige Beispiele sehen? Dann klicken sie hier!
veröffentlicht in Cornelsen, Was? Wie Warum? Ausgabe 3 / 2000